Die Fachtagung wurde von amfn e.V. in Kooperation mit dem Haus der Kulturen Braunschweig e.V. am 29.06.22 in Braunschweig durchgeführt.

Ausgangslage

Die deutsche Gesellschaft ist von Einwanderung geprägt. Auch wenn Zuwanderung und kulturelle Vielfalt in Deutschland größtenteils gewünscht sind, spiegelt sich dies nach wie vor nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen wider. Insbesondere Institutionen stellen sich häufig nur sehr zögerlich auf diese Veränderungen ein. Es zeigt sich immer deutlicher, dass deren Strukturen und Handlungsmuster sich der gesellschaftlichen Realität bisher ungenügend angepasst haben.

Rassismus ist in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam. Darüber herrscht mittlerweile weitestgehend Konsens. Das Phänomen offenbart sich aber nicht nur in persönlichen Begegnungen und Auseinandersetzungen, sondern durchsetzt auch die Institutionen unserer Gesellschaft und verschärft dadurch soziale Ungleichheiten. In Abgrenzung zum Alltagsrassismus spricht man daher auch von institutionellem Rassismus. Damit sind diskriminierende Handlungen in und von Organisationen, die von ihrem Grundsatz her unabhängig von persönlichen Einstellungen sind, gemeint. Institutioneller Rassismus erzeugt eigene Ausschlussmechanismen und zementiert auf diese Weise gesellschaftliche Ungleichheiten. Diese Mechanismen sind jedoch häufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen.

Der Fokus der Fachtagung lag auf einer rassismuskritischen Weiterentwicklung zweier zentraler gesellschaftlicher Institutionen – Polizei und Schule. Beide Institutionen sind stark reguliert und reglementiert und können weitgehend ihrer eigenen institutionellen Logik folgen. Gleichzeitig greifen sie in das Leben vieler Menschen ein.

Anhand fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse wurden die Teilnehmenden vorab in Vorträgen und Workshops für das Ausmaß und die Praktiken rassistischer Diskriminierung in und durch diese Institutionen sensibilisiert. In der Folge entwickelten Sie Forderungen zur rassismuskritischen Weiterentwicklung dieser beiden Bereiche.
Diese Forderungen sollen an die kommende niedersächsische Landesregierung übergeben werden.

Teilnehmende

Die Veranstaltung wurde in hybrider Form geplant und durchgeführt. Durch die hybride Ausrichtung konnten Interessierte auch überregional und bundesweit erreicht werden und der Fachtagung beiwohnen. Die Veranstaltung wurde durch die Organisationen, Netzwerke und Projekte breit beworben. Am Veranstaltungstag fanden sich rund 60 Menschen im Haus der Kulturen in Braunschweig ein, über 70 Teilnehmenden waren digital dazu geschaltet. Die Veranstaltung war mit über 130 Teilnehmenden somit ein großer Erfolg. Um sicherzustellen, dass es während der Veranstaltung nicht zu (ungewollten) Grenzüberschreitungen und rassistischen Verletzungen kommt, waren während der gesamten Veranstaltung zwei Awarenesspersonen (1 digital, 1 präsent) anwesend. Betroffene hatten so die Möglichkeit, sich an die zuständigen Personen zu wenden und Hilfe zu erhalten. Dieses Angebot musste jedoch erfreulicherweise nicht in Anspruch genommen werden.
Neben vielen Eltern und Vertreter*innen von MSOs fanden sich auch Angehörige von Schulen, Polizei und kommunalen Einrichtungen bei der Tagung ein. Das große Interesse zeigt deutlich, wie gesellschaftlich relevant das Thema, nicht nur für Betroffene, ist.

Ablauf

Die Moderatorin Frau Sabrina Rahimi (amfn e.V.) führte durch das Programm. Zunächst wurden die Teilnehmenden durch die Geschäftsführerin des Haus der Kulturen Braunschweig e.V., Frau Cristina Antonelli-Ngameni, begrüßt. Es folgte das Grußwort von Herrn Dr. Anwar Hadeed (Geschäftsführer amfn e.V.), der noch einmal die Wichtigkeit der Veranstaltung und den dringenden Handlungsbedarf herausstellte.

Vortrag

Inhaltlich leitete Herr Tae Jun Kim vom DeZIM in die Tagung ein, mit dem Vortrag „Rassistische Realitäten – Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander?“ Als Studienleiter an der Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) stellte er die Ergebnisse der gleichnamigen Studie vor. Es wurde deutlich, dass die Existenz von Rassismus als gesellschaftliches Diskriminierungs- und Machtphänomen vom Großteil der Bevölkerung anerkannt wird und nahezu alle Bereiche durchzieht. Gleichzeitig lassen sich jedoch auch individuelle Abwehrmechanismen erkennen, durch die Rassismus eher als Problem „der anderen“ gesehen wird. Um eine gemeinsame Diskussionsgrundlage zu haben, ging Herr Kim außerdem auf die gängigen Definitionen zu Rassismus und die Besonderheiten von strukturellem und institutionellem Rassismus ein und beantwortete ausführlich die Fragen der Teilnehmenden. Die Wortmeldungen wurden dabei abwechselnd von den Teilnehmenden in Präsenz und den digital dazu geschalteten gehört.

Nach einer kurzen Pause starteten parallel die beiden Workshops.

Workshop 1

Herr Prof. Dr. Karim Fereidooni von der Ruhr Universität Bochum stellte in seinem Workshop „Rassismus in Schule und Gesellschaft“ ausführlich die Ursachen und Auswirkungen rassistischer Diskriminierungen im Bildungsbereich dar und entwickelte gemeinsam mit den Teilnehmenden Forderungen für eine rassismuskritische Weiterentwicklung der Institution Schule. Dabei ging er sowohl auf verschiedene Ebenen ein: Notwendige Veränderungen des Schulsystems, Maßnahmen, die konkrete Veränderungen in einzelnen Schulen erzielen, sowie individuelle Auseinandersetzung mit Rassismuskritik als Professionskompetenz.

Anschließend diskutierten die über 80 Teilnehmenden in Kleingruppe und danach gemeinsam die aus ihrer Sicht wichtigsten Forderungen und Themen mit dem Ziel einer rassismuskritischen Schule in Niedersachsen.

Workshop 2

Im zweiten Workshop „Polizei und Rassismus. Immer nur Einzelfälle?!“ betrachtete die Referentin Frau Dr. Fatoş Atali-Timmer von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg unterschiedliche Aspekte von Rassismus innerhalb und durch die Polizei. Neben Praktiken wie dem Racial Profiling ging es in ihrem Vortrag auch um die Verstrickungen und Ermittlungsstrategien staatlicher Sicherheitsorgane bei rassistischen Anschlägen der jüngsten Vergangenheit wie Halle und Hanau oder die Aufdeckung rechter Chatgruppen bei der Polizei. Die Diskussion, die schon während des Vortrags begann, wurde durch die anwesenden Polizeibeamt*innen bereichert, die so auch die Möglichkeit bekamen, ihre Sicht darzulegen und Vorbehalte abzubauen, aber auch die Perspektive von Betroffenen wahrzunehmen. Am Ende wurden auch in diesem Workshop Forderungen für eine rassismuskritische Weiterentwicklung der Polizei formuliert.

Abschluss

Die Ergebnisse der Workshops wurden anschließend im Plenum vorgestellt.

Um 18:30 schloss Herr Dr. Anwar Hadeed den offiziellen Teil der Veranstaltung. Im Anschluss gab es bei einem Imbiss die Möglichkeit des weiteren Austauschs und der Vernetzung.

 

Forderungen an die Landesregierung

Für eine rassismuskritische Weiterentwicklung des Bildungssystems, seiner Institutionen und Akteur*innen

Aktivitäten in der Schule

  • Anlaufstelle für Diskriminierung / Antidiskriminierungsbeauftragte an jeder Schule für Eltern und Schüler*innen
  • Sozialarbeiter*innen gegen Rassismus an jeder Schule
  • Rassismuskritische Fortbildung für Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen einer Schule zur Stärkung der Sensibilität
  • Regelungen zum Umgang mit Rassismus an den Schulen entwickeln
  • Bewertungsfreie Räume schaffen und durch externe Kooperationspartner*innen Rassismussensibilität an den Schulen ausbauen
  • Ein Awareness-Parlament bilden, bestehend aus allen Personengruppen an einer Schule, mit dem Ziel für Rassismus zu sensibilisieren und sich über den Umgang mit Rassismus bzw. Maßnahmen dagegen austauschen
  • Diversität der Lehrer*innenschaft verstärken
  • Programm „We fight racism“ mit Würdigung besonders aktiver und innovativer Ideen
  • Diversitätssensible und rassismuskritische Arbeit von der KiTa ab beginnen

Schulübergreifende Aktivitäten

  • Schulunabhängige Antidiskriminierungsstellen für Betroffene vor Ort

Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte

  • Rassismuskritische Module als fester Bestandteil im Lehramtsstudium
  • Rassismuskritische Fortbildungen für alle Lehrkräfte

Veränderungen des Bildungssystems

  • Eine Schule für alle – keine Selektion nach Klasse 4
  • Ganztagsschulen
  • neutrale Notengebung: Anonymisierte Bewertung schriftlicher Arbeiten, Zweitbewertung durch eine weitere Lehrkraft
  • Kompetenzorientierte Bewertungen in der Schule
  • Ressourcenorientierte Förderung der Persönlichkeitsentwicklung

Für eine rassismuskritische Weiterentwicklung der Polizei

  1. Die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle, um Fälle von Polizeigewalt und weiteren Diskriminierungspraktiken aufzunehmen und zu dokumentieren. So ließe sich eine empirische Datengrundlage schaffen. Diese Beschwerdestelle würde nicht nur den direkt Betroffenen die Möglichkeit der Anzeige geben, sondern auch Polizeibeamt*innen, die Fehlverhalten von Kolleg*innen zu melden. (vgl. unabhängige Polizeibeauftragte Nordrhein-Westfahlen, Berlin)
  2. Die Ernennung von Extremismusbeauftragten bei der Polizei für die interne Dokumentation und Aufklärung (Bsp. Nordrhein-Westfalen, Berlin).
  3. Die Durchführung einer unabhängigen Studie zu Rassismus und Rechtsextremismus bei der Polizei.
  4. Die obligatorische Verankerung von Modulen zu Rassismus, Critical Whiteness und Migrationsgesellschaftlicher Kompetenz in der Polizeiaus- und Weiterbildung.
  5. Die stärkere Einbeziehung von Expert*innen aus der Praxis und Forscher*innen bei der Entwicklung und Umsetzung rassismuskritischer Bildungsmaßnahmen.
  6. Gesonderte rassismuskritische Weiterbildungsmaßnahmen für Führungskräfte.
  7. Die Einrichtung und Verstetigung von Dialogveranstaltungen.